Freitag, 20. Juli 2018

Sommerzeit - Notenzeit - Zeit der gebrochenen Kinder


Die Schule - Ein Problem unserer Gesellschaft


Der Kommentar eines Menschen kann maßgeblich dazu beitragen, dass ein Kind freudvoll lernt. Oder er kann das Gegenteil bewirken. Manchmal bedarf es nicht einmal eines Kommentars - da reicht auch ein Blick bei der Notenübergabe. Wie jedes Jahr im Sommer, wenn zig gekränkte Seelen in sechs lange Wochen entlassen werden.

Lehrer sind Menschen in besonders verantwortungsvollen Situationen und Positionen – sie sind verantwortlich dafür, dass aus Lernern glückliche Lerner werden und aus diesen schließlich unsere künftigen Gynäkologen, Quantenphysiker, Automechaniker, Erzieherinnen und vielleicht auch wieder Lehrer oder Lehrerinnen.
In der Lehrer Hand liegt die Macht, die Welt zu verändern.
Das ist kein Pathos – das ist die Realität. Und in Zeiten, in denen Nachrichten über Grundschulen veröffentlicht werden, in denen es darum geht, dass Kinder auf Lehrkräfte einschlagen, müssen wir uns als Gesellschaft fragen:

WAS LÄUFT IN UNSEREN SCHULEN SCHIEF?


Es läuft sehr viel schief. Denn in Schulen arbeiten Menschen – und zwar Menschen, die das Recht haben, auch als solche behandelt zu werden – damit sie die ihnen anvertrauten kleinen Menschen ebenfalls wieder als solche behandeln können.

Allerdings klappt das häufig nicht – denn auch in unserer Gesellschaft läuft viel schief. Die Schulen wiederum sind letztlich die Spiegel und Produktionsstätten dieser Gesellschaft.
Wir befinden uns also in einem Kreislauf, in dem vor allem eines vorherrscht: das Zuschieben gegenseitiger Verantwortung. Dabei geht viel anderes verloren. Menschlichkeit zum Beispiel. Aber wir hören es ja immer wieder:


Wir müssen effizienter werden. Wir sollen schneller werden. Wir sollen gesund bleiben. Wir sollen leisten und gleichzeitig glücklich sein. Wir sollten politisch werden. Wir sollten sexy sein. Und klug. Und am allerbesten sollten wir viel Geld verdienen, damit das Bruttosozialprodukt stimmt. Der Staat tut das Übrige. Lehrerstellen? Wozu denn? Sparen – damit die Regierungsbilanz stimmt. Und dazu muss man natürlich frühzeitig schon den Kleinen vermitteln, wo sie stehen. Dann kommt es zu Stress - denn alle, allen voran Lehrer und Kinder, sollen im Auftrag der Gesellschaft genau das alles erfüllen.

Hilfe! - Fehlanzeige!


Pädagogische Begleiter für autistische Kinder am Gymnasium (und sonst für niemanden!), natürlich, die gibt es! 18-Jährige in der Selbstfindungsphase, die noch keinen Studienplatz haben. Sie sind billig. Natürlich kann ein Klassenlehrer Postkarten für Tierhilfsorganisationen verkaufen, Versicherungsbelege sortieren, Schüler- und Elterngespräche führen, sich fortbilden und auch mal eine Korrektur mehr machen.
Freilich, noch ein Projekt hier, ein Mobbingfall dort, drei Zusatzstunden der Lehrer in der Woche sind ohnehin gratis dabei – die darf man dem Staat nicht in Rechnung stellen. Kein anderer Arbeitnehmer dürfte derart ausgebeutet werden. Die Wochenstundenzahl der meisten Kinder würde ebenfalls jede Gewerkschaft auf den Plan rufen. Aber wir schauen gerne zu - als Eltern. Als Mitmenschen. Sind nicht betroffen. Schließlich sagt man uns: so ist das eben heute!

Oh, und wenn schon dabei, vielleicht auch noch eine kleine Nachhilfestunde mehr? Die Woche im Schullandheim – also bitte, das ist doch URLAUB! Was, abends kann man Sie nicht erreichen? Unmöglich!
Aber irgendwann ist das Maß voll.
Irgendwann liegen die Nerven der Lehrer und der Kinder blank – und die Kinder zerren an ihnen. Gerade im Sommer.
Sie sind nicht schnell genug, haben das Einmaleins oder die Kurvendiskussion immer noch nicht gelernt, diese blöden Gören.
Die Eltern drohen, und überhaupt – man spürt sie, die eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten.  
Moment.... die EIGENEN?
Sind nicht diese verzogenen Kinder das eigentliche Problem?
Diese Kackbratzen, die, so wie die Eltern, völlig undankbar immer mehr fordern?

Irgendwann kippt das Klima. Irgendwann halten es weder Kinder noch Lehrer mehr aus. Mit allen Überforderungen und Anforderungen, die die Menschlichkeit rauben. Man schiebt sich Schuld zu. 

Aber die Zukunft fordert doch Leistung!

Ach, und wenn wir Lehrer sind, sollten wir doch gefälligst dafür sorgen, dass die Kindlein darauf ausgerichtet werden, in diese Gesellschaft zu passen. Sie sollen sich daran gewöhnen, dass man leisten muss – auch in der ersten Klasse!
Wie heißt es so schön bei nahezu allen Einschulungen? Die Schule ist der Ernst des Lebens – und fürs Leben lernen wir schließlich!
So kommt es, dass der Druck, den Politik und Gesellschaft auf Lehrer UND Kinder abwälzen, zu Katastrophen führen. Dass bereits Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren Suizidgedannken entwickeln, weil sie Kommentare wie diesen lesen müssen:

((c) Bild: M. Heisler)

Statt Hilfe zu erfahren.

2018 - es kippt!

Manchmal geht bei all dem Ehrgeiz etwas schief.  Es geht jetzt schief, im Jahr 2018, heute, wenn es an manchen Schulen Baden-Württembergs die Zeugnisse gibt. Und sowohl Lehrer als auch Kinder leiden. Problembewusstsein, dass so ein Kommentar die Menschenwürde verletzt? Fehlanzeige! Weder bei Lehrkraft noch Schulleitung noch Schulamt – das ist doch „harmlos“. Und auch die Eltern sehen selten, was passiert. Wenn sie es sehen, ist der Lehrer "schuld". Die Verantwortung von Politik und Gesellschaft bleiben in der Regel unbenannt.

Das Problem ist nicht diese einzelne Lehrerin, die den Kommentar unter das Heft des Kindes schrieb. – das Problem ist, dass sie kein Einzelfall ist. Dass sie eine Vielzahl von Lehrern repräsentiert, die sich in der vermeintlichen Loyalität zum Staat den eigenen Verstand, die Empathie und die Distanz zum eigenen Tun militärisch haben abtrainieren lassen. Sie produzieren angepasste, duckmäuserische, nur im verborgenen eskalierende Kinder. Oder welche, die irgendwann ihre Lehrer schlagen, weil sie spüren, dass diese es ihnen gleich tun würden, wenn sie könnten. Sie arbeiten nicht an und mit kleinen selbstbewussten Menschen, denen man guten Gewissens überlassen kann, einem irgendwann mal den Uterus heraus zu operieren. Weil sie darauf getrimmt sein werden, schnell zu arbeiten. Weil sie Spartenwissen haben werden – und ständige Angst vor dem Versagen. Weil sie unfrei in sich selbst sein werden. Weil sie keine Lehrer haben, die Zeit für sie haben - sondern welche, die dem Diktat der Leistung hinterher rennen und längst genauso verzweifelt sind, wie die Kinder.

Das Problem ist das Verhamlosen der zwischenmenschlichen Katastrophen und ihrer Folgen – weil man ratlos ist. Weil man sich auf den Ist-Zustand besinnt. Man MUSS aber doch leistungsfähig sein. Oder etwa nicht? NEIN, man MUSS es nicht.

WIR MÜSSEN GAR NICHTS!


Das Leistungssystem und das Menschenbild in diesem Land – sie werden sich nicht von einem Tag auf den anderen ändern. Aber die Politik könnte es.
Durch Entlastung der Lehrer.
Durch Verantwortungsübernahme für die eigenen Versprechen in Form von reduzierten Belastungen der Kollegien.
Beispielsweise durch echte Sonderpädagogen und Sekretariatskräfte.
Durch die Rückkehr zu G9 und das Verlassen der vierjährigen Grundschule.
Durch die Einführung von Ethik ab Klasse 1.
Durch Zeit für Elterngespräche und Geld für Ausstattung gesprächsförderlicher Räume.
Und nicht zuletzt kann auch die Gesellschaft einen ersten Schritt tun: Wertschätzung für alle Lehrerinnen und Lehrer und alle Kinder, die heute, morgen oder in einem Jahr in die Ferien entlassen werden. SIE ALLE haben es verdient!

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