„Meine Frau braucht keine Stiefel!“ sagte der bärtige Mann.
Es war Winter. Es wurde kalt.
Sie wusste, dass sie die Stiefel nicht brauchen würde.
So nicht.
Sie blickte zu Boden, als ihr Mann es der fremden Frau, der
Tochter des Hausbesitzers erklärte, die ihr ihre Stiefel vom Vorjahr vorbei
bringen wollte. Woher wusste sie, dass sie ihr passen würden?
„Sie muss gar nicht raus. Sie muss nicht in die Kälte. Sie
soll am warmen Herd stehen und arbeiten. Das ist es, was sie muss. Sie braucht
keine Stiefel!“
Der heiße Herd. Ihre Narbe schmerzte. Immer, wenn sie den
Kochlöffel hielt, spannte die Haut. Wenn sie den heißen, zuckrigen Sirup
einkochte, den man in ihrer Heimat über den hauchdünnen Blätterteig goss,
durchfuhr sie der brennende Schmerz, der sie daran erinnerte.
Ihre Heimat. Die Wärme. Dort brauchte sie keine Stiefel. Wo
war ihre Heimat?
War es dieses Land, in dem sie kaum je ein Wort mit den
Menschen gewechselt hatte? Hier, wo ihr Mann einen Laden gepachtet hatte und
„Spezialitäten aus dem Orient“ verkaufte. Zumindest sagte er das. Hierher war
sie gekommen, weil man ihr sagte, dort würde sie erwartet. Aber es war kalt
hier.
Es schneite. Und es war kalt. Aber sie brauchte keine
Stiefel, sagte ihr Mann.
Er selbst trug welche. Mit Fell gefüttert, mit dem Fell der
Schafe, die dort, wo sie die Sprache verstand, gelbbraune Felder abgegrast
hatten. Ob es wohl möglich war, das Fell der Schafe bis hierher zu bringen?
Sie verlor sich in den Gedanken an die Schafe. An das
Gebäck. An ihre Heimat, die nicht das Land war, dessen Sprache sie heimlich am
Fernseher gelernt hatte, wenn ihr Mann unten im Laden war. Vielleicht würde man
sie sogar verstehen, wenn sie mit den Menschen spräche.
Sie wusste es nicht, denn sie hatte es nie ausprobiert. Ihre
Füße hatten sie noch nie weiter als bis zur Haustür getragen – wenn sie die
Treppen putzte. Die Menschen hier nannten das Kehrwoche.
Im Winter war es besonders unangenehm. Dann klebten kleine
Steinchen an den Sohlen. Braungraue Pfützen zogen sich über die Stufen. Sie
putzte sie.
Ihr Mann war unten im Laden. Mit seinen Stiefeln. Die Narbe
tat weh. Ihr Herz brannte – und sie glaubte, es würde sie wärmen bis ans Ende
des Weges.
Dann ging sie. Hinaus in den Schnee. Der Winter war kalt. Und der Schnee unter ihr schmolz.
Als ihr Mann abends in die Wohnung kam, stand das Paar
Stiefel der Tochter des Vermieters vor der Wohnungstür.
Sie brauchte keine Stiefel.
ACK, 09.10.2013
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