Dienstag, 8. Oktober 2013

Stiefel



„Meine Frau braucht keine Stiefel!“ sagte der bärtige Mann. Es war Winter. Es wurde kalt.
Sie wusste, dass sie die Stiefel nicht brauchen würde.
So nicht.
Sie blickte zu Boden, als ihr Mann es der fremden Frau, der Tochter des Hausbesitzers erklärte, die ihr ihre Stiefel vom Vorjahr vorbei bringen wollte. Woher wusste sie, dass sie ihr passen würden?
„Sie muss gar nicht raus. Sie muss nicht in die Kälte. Sie soll am warmen Herd stehen und arbeiten. Das ist es, was sie muss. Sie braucht keine Stiefel!“
Der heiße Herd. Ihre Narbe schmerzte. Immer, wenn sie den Kochlöffel hielt, spannte die Haut. Wenn sie den heißen, zuckrigen Sirup einkochte, den man in ihrer Heimat über den hauchdünnen Blätterteig goss, durchfuhr sie der brennende Schmerz, der sie daran erinnerte.
Ihre Heimat. Die Wärme. Dort brauchte sie keine Stiefel. Wo war ihre Heimat?
War es dieses Land, in dem sie kaum je ein Wort mit den Menschen gewechselt hatte? Hier, wo ihr Mann einen Laden gepachtet hatte und „Spezialitäten aus dem Orient“ verkaufte. Zumindest sagte er das. Hierher war sie gekommen, weil man ihr sagte, dort würde sie erwartet. Aber es war kalt hier.
Es schneite. Und es war kalt. Aber sie brauchte keine Stiefel, sagte ihr Mann.
Er selbst trug welche. Mit Fell gefüttert, mit dem Fell der Schafe, die dort, wo sie die Sprache verstand, gelbbraune Felder abgegrast hatten. Ob es wohl möglich war, das Fell der Schafe bis hierher zu bringen?
Sie verlor sich in den Gedanken an die Schafe. An das Gebäck. An ihre Heimat, die nicht das Land war, dessen Sprache sie heimlich am Fernseher gelernt hatte, wenn ihr Mann unten im Laden war. Vielleicht würde man sie sogar verstehen, wenn sie mit den Menschen spräche.
Sie wusste es nicht, denn sie hatte es nie ausprobiert. Ihre Füße hatten sie noch nie weiter als bis zur Haustür getragen – wenn sie die Treppen putzte. Die Menschen hier nannten das Kehrwoche.
Im Winter war es besonders unangenehm. Dann klebten kleine Steinchen an den Sohlen. Braungraue Pfützen zogen sich über die Stufen. Sie putzte sie.
Ihr Mann war unten im Laden. Mit seinen Stiefeln. Die Narbe tat weh. Ihr Herz brannte – und sie glaubte, es würde sie wärmen bis ans Ende des Weges.
Dann ging sie. Hinaus in den Schnee. Der Winter war kalt. Und der Schnee unter ihr schmolz.
Als ihr Mann abends in die Wohnung kam, stand das Paar Stiefel der Tochter des Vermieters vor der Wohnungstür.
Sie brauchte keine Stiefel.

ACK, 09.10.2013

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